Training manual for identifying German Wehrmacht members, created in 1943 at the Military Intelligence Training Center Camp Ritchie

WWW II Wednesday – Ausgabe 3: Camp Ritchie

World War II Wednesday
Der Zweite Weltkrieg: Was nicht im Lehrbuch steht
Unbekannte & kuriose Fakten
Aus dem Geschichtsblog von Dr. Christian Hardinghaus
Camp Ritchie: Die geheime Ausbildungsstätte deutscher Emigranten in den USA
Deutsche Emigranten als US-Militärgeheimdienstler

Fakten auf einen Blick

  • Camp Ritchie bildete von 1942-1945 etwa 19.000 Soldaten aus, davon 80% keine US-Staatsbürger[1]
  • Die „Ritchie Boys“ waren hauptsächlich deutsche und österreichische Emigranten, viele davon jüdische Flüchtlinge
  • Sie spezialisierten sich auf Verhörtechniken, psychologische Kriegsführung und militärische Aufklärung

In den Bergen von Maryland, nur wenige Stunden von Washington D.C. entfernt, lag während des Zweiten Weltkriegs eines der bestgehüteten Geheimnisse der US-Army: Camp Ritchie.

Was von außen wie ein gewöhnliches Militärlager aussah, war in Wahrheit eine hochspezialisierte Ausbildungsstätte für eine der ungewöhnlichsten Einheiten des Krieges – die „Ritchie Boys“[3].

Diese jungen Männer hatten eine außergewöhnliche Geschichte: Sie waren vor den Nazis aus Deutschland und Österreich geflohen, hatten in Amerika eine neue Heimat gefunden und kehrten nun als US-Soldaten zurück, um gegen ihre ehemaligen Landsleute zu kämpfen. Ihre Waffe war nicht das Gewehr, sondern ihr Verstand, ihre Sprachkenntnisse und ihr intimes Wissen über die deutsche Mentalität[5].

Ab Juni 1942 verwandelte die US-Army das ehemalige Lager der Nationalgarde in das Military Intelligence Training Center. Die abgeschiedene Lage in den Bergen Marylands machte es zum idealen Ort für eine Schule der besonderen Art – hier sollten Spezialisten für militärische Aufklärung und psychologische Kriegsführung ausgebildet werden.

Der Unterricht in Camp Ritchie war intensiver als an jeder Universität. Die angehenden Ritchie Boys mussten das „German Order of Battle“ auswendig lernen – eine detaillierte Aufschlüsselung aller deutschen Divisionen, ihrer Kommandeure und Einsatzgebiete. Sie lernten Morsen, Luftbildauswertung und vor allem die Kunst des Verhörens. Ein besonders skurriles Detail: US-Soldaten in deutschen Uniformen dienten als Sparringspartner für die Übungen – auch wenn die Uniformen nicht immer richtig passten.

„So viele bekannte Gesichter! Es wimmelt von alten Freunden aus Berlin, Wien, Paris, Budapest; man kommt sich vor wie in einem Club oder Stammcafé!“
– Klaus Mann über Camp Ritchie

Klaus Mann, der berühmte Schriftsteller und Sohn von Thomas Mann, durchlief ebenfalls das Trainingsprogramm und notierte begeistert diese Worte. Tatsächlich war Camp Ritchie zu einem Sammelpunkt europäischer Intellektueller geworden, die ihre Bildung und Sprachkenntnisse in den Dienst der Alliierten stellten.

Die ersten Ritchie Boys trafen bereits am Tag nach D-Day in der Normandie ein. Ihre Mission war klar: systematische Verhöre von Kriegsgefangenen und Überläufern, meist in Gefangenenlagern direkt hinter der Front[2]. Mit psychologischen Tricks – wie der Drohung, nicht kooperative deutsche Soldaten an die Russen zu überstellen – brachten sie ihre Landsleute zum Reden und lieferten den Alliierten wertvolle Informationen über Truppenstärke, Bewegungen und die Moral der Wehrmacht.

Besonders bemerkenswert war die Arbeit von Guy Stern, einem jüdischen Flüchtling aus Hildesheim, der als Verhörspezialist deutsche Generäle befragte. Seine Methode war raffiniert: Er gab sich als deutscher Offizier aus und nutzte sein perfektes Deutsch und seine Kenntnis deutscher Militärtraditionen, um das Vertrauen der Gefangenen zu gewinnen. So erfuhr er Details über deutsche Verteidigungsstellungen, die den Alliierten entscheidende Vorteile verschafften.

Das Lager selbst war ein Mikrokosmos der Vielfalt: 44% der Soldaten waren außerhalb der USA geboren, 19% stammten aus Deutschland. Es war nicht ungewöhnlich, über 40 verschiedene Sprachen im Camp zu hören – von Baskisch bis Tatarisch. Sogar 48 afroamerikanische Soldaten trainierten dort, obwohl sie aufgrund der damaligen Rassentrennung in separaten Baracken untergebracht waren.

Der Mythos

Die Ritchie Boys waren Verräter, die ihr eigenes Volk bekämpften und dabei ihre deutsche Identität verleugneten. Sie waren nichts weiter als amerikanische Spione in deutschen Uniformen.

Die Realität

Die Ritchie Boys waren Flüchtlinge vor der Nazi-Diktatur, die ihre neue amerikanische Heimat verteidigten. Sie kämpften nicht gegen Deutschland, sondern gegen den Faschismus. Viele retteten durch ihre Arbeit sowohl amerikanische als auch deutsche Leben.

Zum Nachdenken

  • Alternativszenarien: Was wäre geschehen, wenn Deutschland ähnliche Einheiten aus amerikanischen oder britischen Emigranten gebildet hätte? Hätte dies den Kriegsverlauf beeinflusst?
  • Moderne Parallelen: Heute setzen Geheimdienste und Militärs weltweit auf kulturelle Expertise von Emigranten und Flüchtlingen. Die Methoden der Ritchie Boys leben in modernen HUMINT-Operationen weiter.

Quellen & weiterführende Literatur

  • Schaefer, S. (2004). The Ritchie Boys: The Secret Special Unit of German-Jewish Refugees in World War II. Rowman & Littlefield.
  • Stern, G. (2004). The Other Side of the Story: The Ritchie Boys – My Memoir. Detroit, Wayne State University Press.
  • Lackner, Robert (2020). Camp Ritchie und seine Österreicher: Deutschsprachige Verhörsoldaten der US-Armee im Zweiten Weltkrieg. Böhlau Verlag.
  • Wikipedia.de – Camp Ritchie
  • Bildnachweis: Handbook on German Army Identification (Titelseite), Camp Ritchie 1943 – Wikimedia Commons/United States War Department (Public Domain)

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